Wiedergeburt
durch die innere Mutter
Heiliger
Geist, erquickendes Leben
das alle Dinge bewegt, die Wurzel der Schöpfung,
welche alles Unreine wäscht,
Sünden beseitigt und Wunden heilt,
welcher strahlendes Licht und lobenswertes Leben ist,
Dinge erweckt und wiedererweckt.
Hildegard von Bingen, Symphonia
Die zweite Geburt,
setzt, wie auch schon die erste, das Geschenk des Lebens
durch die Mutter voraus. Wir kommen nicht durch eigenes
Handeln in diese Welt. Jemand anderer entbindet uns. So
erkennen auch die meisten Religionen, dass uns auch jemand
die zweite Geburt geben muss. Diese spirituellen
Traditionen betonen z.B. die Rolle des Meisters; das
Geschenk der göttlichen Gnade und die Notwendigkeit sich
dieser hinzugeben; das Vorhandensein des Göttlichen und die
Fähigkeit Dinge geschehen zu lassen, ohne sich
einzumischen. Mit den Worten von Kierkegaard könnte man
sagen: „Wenn das Meer seine Kräfte sammelt und sich
dieser besinnt, kann es den Himmel nicht reflektieren. Wird
es aber ruhig, tief und still, senkt sich das Bild des
Himmels von selbst herab.“
„Die Wissenden sind still“, verkündet das Tao
te King. Wird das Meer tief und ruhig, badet man im Void
des vollkommen ruhigen Bewusstseins. In diesem Zustand kann
sich das Selbst selbst erkennen. Das bedeutet, dass die
Bewusstseinsenergie und Aufmerksamkeit im Sushumna ruhen,
ohne den Bestrebungen des sympathischen Nervensystems
nachzugeben. In der Sanskrit Schrift Hathayogapradipika
(Kap. 2, Vers 42) ist folgendes nachzulesen: „Wenn
der Atem durch den Sushumna fließt, werden die Gedanken
ruhig.“ Jedoch gehört es zu den schwierigsten
Aufgaben, diesen Zustand zu halten. Der im Jahre 867
verstorbene, große Zen Meister Rinzai Gigen, erzählte
seinen Schülern, dass das Phänomen mit einem Funken
vergleibar ist, welcher bei einem Schlag mit dem Hammer auf
Stahl aufsprüht - innerhalb eines Augenzwinkerns ist er
wieder verloren.
Tatsächlich
erreichten in der Vergangenheit nur ganz wenige Menschen
ihre Selbstverwirklichung. Die wenigen, wie jene
sechsundzwanzig Zen-Meister, waren Pioniere, welche es
schafften, sich zwischen rechtem und linkem sympathischen
Nervensystem hochzuziehen, vergleichbar einem Bergsteiger,
der sich einen glatten Felskamin hochstemmt. Nachdem sie
über das dritte Auge hinausgelangt waren, erhob sie die
Gnade der Kundalini vielleicht sogar bis ins Sahasrara
Chakra. Die meisten konnten diesen Zustand höchster
Erfüllung jedoch nicht erreichen, auch wenn sie ihn
anstrebten. Diese Aussichtslosigkeit führte im zwanzigsten
Jahrhundert zur Revolte der Existenzialisten, der letzte
Atemzug der kränkelnden westlichen Philosophie. Heute ist
es uns im Licht der fortschrittlichsten Lehren möglich,
diese Widersprüche zu überwinden. Beobachtungen und
Erfahrungen bestätigten immer wieder drei wichtige
Tatsachen:
1. dass im parasympathischen Nervensystem das Potential für
die Transformation des Bewussteins liegt.
2. dass dieses Potential durch die Erweckung der Kundalini
Energie verwirklicht wird. Die Energie steigt auf, wenn das
Individuum von den Vibrationen der Chaitanya erfüllt wird.
3. dass wir heute in einer Zeit leben, in welcher der
evolutionäre Prozess so weit fortgeschritten ist, dass die
oben beschriebene Erfahrung für die Mehrzahl der Menschen,
die das wünschen, möglich ist.
Mit anderen Worten
gesagt, heißt das, dass die Kundalini Energie die
Voraussetzungen dafür schafft, durch welche wir im Geiste
wiedergeboren werden können, auch wenn diese Aussage für
jene, die ihren eigenen Willen und nicht den ihrer Mutter
als Ursache ihrer Geburt betrachten, intolerant erscheinen
mag. Die Kundalini verströmt das Lebenswasser, von welchem
Christus in seinem Gespräch mit Nikodemus sprach. Sie
repräsentiert den katalytischen Faktor, der für die
Manifestation der spirituellen Kräfte im Menschen
unerlässlich ist und ermöglicht uns, diese Erfahrung
weiterzugeben. Eine Kerze kann nicht aus ihrer eigenen
Flamme brennen. Vielmehr ist erforderlich, sie zuerst mit
einer anderen Flamme zu entzünden. Ein Kind wird von seiner
Mutter geboren. Ein Zweimalgeborener wird von der Kraft der
Kundalini geboren. Sie ist die Mutter, die innere Göttin.
aus: Gregoire de Kalbermatten 'The Third Advent'
Übersetzung:
S.H.