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Inspiration und Kreativität

Die künstlerische Inspiration ist ein Phänomen, dass sich bislang trotz großer Bemühungen rationalen Erklärungen widersetzt. Das Wesen von Sahaja Yoga jedoch wird in wenigen menschlichen Wirkungsbereichen so deutlich erkennbar wie in der Kunst.

Gehen wir davon aus, dass der geschichtliche Ursprung nahezu aller künstlerischer Ausdrucksformen in archaischen Riten zu suchen ist, die vorwiegend der Verehrung des Göttlichen dienten, so erkennen wir fürs erste eine Sinnverwandtschaft der Begriffe
Inspiration, was in weiterem Sinne ‚Vergeistigung’ bedeutet, und Yoga, der Verbindung des individuellen ‚Selbst’ mit dem Urgeist der Schöpfung, dem ‚Heiligen Geist’.

Betrachten wir die autobiographischen Skizzen Mozarts, Michelangelos, Brahms und vieler anderer bedeutender Künstler, fallen zwei weitere verbindende Fakten auf: die Fähigkeit jener Künstler, sich selbst als Instrument einer göttlichen Schöpfungskraft wahrzunehmen, und die außergewöhnliche Spontaneität, durch welche sich ihre Schaffensweise auszeichnet.

Wolfgang Amadeus Mozart komponierte seine ‚Linzer’ Symphonie innerhalb von nur fünf Tagen, die Ouvertüre zu Don Giovanni gar binnen zweier Stunden - nach rationalen Erwägungen ein Ding der Unmöglichkeit! Heute wissen wir, dass er, während er ein Werk niederschrieb, das nächste bereits ‚fertig’ im Kopf trug. „Es geht bei mir zu wie in einem schönen, starken Traume“, veranschaulichte dieser ‚effizienteste’ Komponist aller Zeiten den Vorgang des Komponierens und beschrieb wie die Ideen, längst in ihre endgültige musikalische Fassung gebracht, leicht und unaufhaltsam auf ihn einströmten, um von seiner Hand allenfalls den letzten Schliff zu erlangen.

Michelangelo, auf seine selbst für versierte Bildhauer kaum nachvollziehbare Arbeitsweise angesprochen, erklärte, seine künstlerische Leistung bestehe vornehmlich darin, Skulpturen von überflüssigem Stein zu befreien; schließlich sehe er seine Plastiken bereits im unbehauenen Marmorblock detailgenau vollendet. Dieser Darstellung entsprechend schrieb er in einem seiner Sonette:

„Der beste Meister kann kein Werk beginnen,
das nicht der Marmor schon in sich umhüllt,
gebannt in Stein. Jedoch, das Werk erfüllt
die Hand, dem Geist getreu und dessen Sinnen.“

Johannes Brahms wiederum erzählte dem Musikjournalisten Abell: „Wenn ich den Drang (zu Komponieren) in mir spüre, wende ich mich zunächst direkt an meinen Schöpfer und stelle ihm die drei in unserem Leben auf dieser Welt wichtigsten Fragen: woher?  warum?  wohin? Ich spüre unmittelbar danach Schwingungen, die mich ganz durchdringen. Sie sind der Geist, der die inneren Seelenkräfte erleuchtet, und in diesem Zustand der Verzückung sehe ich klar, was bei meiner üblichen Gemütslage dunkel ist. Dann fühle ich mich fähig, mich wie Beethoven von oben inspirieren zu lassen. (….) Diese Schwingungen nehmen die Form bestimmter geistiger Bilder an, nachdem ich meinen Wunsch und Entschluss bezüglich dessen, was ich möchte, formuliert habe: nämlich inspiriert zu werden, um etwas zu komponieren, was die Menschheit aufrichtet und fördert - etwas von dauerhaftem Wert. Sofort strömen die Ideen auf mich ein, direkt von Gott. Ich sehe nicht nur bestimmte Themen vor meinem geistigen Auge, sondern ebenso die richtige Form, in die sie gekleidet sind, die Harmonien und die Orchestrierung. Takt für Takt wird mir das fertige Werk offenbart, wenn ich mich in dieser seltenen inspirierten Gefühlslage befinde.“

Shri Mataji erachtet die Kunst als eine der wichtigsten und bedeutensten Manifestationen menschlicher Spiritualität. Jedes Kunstwerk besitzt nicht nur eine ästhetische sondern auch eine signifikante ‚vibratorische’ Qualität - Brahms nennt diese ‚Schwingungen’ - welche eine direkte Auswirkung auf jeden lebendigen Organismus hat. Es gilt als erwiesen, dass Pflanzen unter dem Einfluss gewisser Musikstücke schneller wachsen. Dass Mozarts oder Bachs Werke und auch zahllose indische Ragas gerne für therapeutische Zwecke herangezogen werden, liegt nicht zuletzt an der Tatsache, dass sie auf ‚vibratorischer’ Ebene - diese entspricht gleichermaßen der Summe aller evolutionären Erkenntnisse und Informationen - unvergleichlich stark wirken.

Wenn wir meditieren, d.h.: wenn die Kundalini-Energie unser Stirn-Chakra (Agnya) durchläuft, wir gedankenfrei bewusst werden, und der Weg zu unserem Scheitelchakra (Sahasrara) frei wird, dann begeben wir uns zugleich in den Wirkungskreis der Inspiration. Ähnlich der Sahaja Yoga Meditation (sahaj = spontan, bzw. ‚mitgeboren’) schöpft auch die Inspiration ihre belebende Macht weder aus langwierigen Überlegungen oder Plänen, noch aus körperlichen Anstrengungen. Vielmehr manifestiert sie sich - dank der Kundalini-Energie, der Schöpfungskraft schlechthin - in Form von klaren intuitiven Botschaften, die freilich weit über das Feld der Kunst hinaus wirksam sein können.

„Planung ersetzt Zufall durch Irrtum“, meinte Albert Einstein, der laut eigener Angaben viele entscheidende Lösungsansätze erst entdeckte, wenn seine Gedanken schwiegen. Wie kaum ein anderer Wissenschaftler vertraute er auf die ‚spirituelle’ Macht der Inspiration und auf die Praxis, allfällige unlösbare Fragen an die alles durchdringende Urkraft der Schöpfung zu ‚delegieren’, wohl wissend, dass ewig gültige Antworten eben nur jenseits der Ratio zu finden sind.

Meditation ist demgemäß ein inspirierter, bzw. inspirierender Zustand und keine Tätigkeit. Andererseits kann jede Tätigkeit in Meditation verrichtet, jedes Gespräch in Meditation geführt, und jede Entscheidung in Meditation getroffen werden, bloß um vieles müheloser, zielsicherer, stressfreier, und daher merklich angenehmer, als unter dem erdrückenden Schatten unserer mentalen Barrieren. Denn während die komplizierten Gedankenspiele und Konditionierungen unsere Kreativität oftmals bereits im Keim ersticken - sofern sie uns nicht gar zu destruktiven Handlungen verleiten - bewirkt die Kundalini eine Objektivierung unserer Wahrnehmung.

Weitgehend befreit von den hemmenden Einflüssen von Ego und Superego können wir jede sinnliche, gedankliche oder emotionale Sensation, die unsere Meditation erreicht, über das Decodiersystem unserer ‚vibratorischen’ Unterscheidung auf ihre ureigenste Wahrheit prüfen. Beschäftigen wir uns aber mit dem Werk eines Künstlers, so befähigt uns die Kundalini, die Inspiration jenes Künstlers auf unserem eigenen zentralen Nervensystem empirisch nachzuerleben - ein ausserordentlich genussvoller Vorgang.

„Der Sänger wandelt sein Lied in Gesang, seine Freude in Formen, und der Hörer muss den Gesang wieder in die ursprüngliche Freude zurückverwandeln, dann ist die Gemeinschaft zwischen dem Sänger und dem Hörer vollkommen.“ schreibt der indische Dichter Rabindranath Tagore in seinem Buch Sadhana. In ähnlicher Weise haben zahllose Sahaja Yogis durch die Meditation ihre verborgene künstlerische Ader entdeckt, und selbst wenn sie dem Ruf ihrer Inspiration nicht als aktive Künstler gefolgt sind, so zeichnen sie sich doch mehrheitlich als enthusiastische Kunstgenießer aus.

Marcandeya T.