gibranATMA

Das Selbst - der Geist – das Atma

Der Geist oder Spirit, das Selbst, das Atma sitzt im Herzen des Menschen. Er ist die Quelle reiner Freude, vollkommener Erfüllung und allumfassender Liebe. Während die Kundalini die innere Mutter verkörpert, ist das Atma der universelle Geist, also der väterliche Aspekt Gottes. Der große indische Philosoph Shankara (8.Jh. n.Chr.) erlebte den Zustand der vollkommenen Vereinigung mit dem Göttlichen. Seine Beschreibungen des Atman sind berühmt:

"Das, welches keiner Wandlung unterliegt,
das, was nie aufhört zu sein,
ruhig wie die Weite des wellenlosen Meeres,
ewig frei und ungeteilt,
dessen Essenz die vollkommene Einheit ist,
das ist Shiva, und du bist Shiva.
Meditiere über ihn im Lotus Deines Herzens.

Nichts existiert außerhalb
Es ist selbst größer als das Universum,
es selbst erschafft die Illusion
Das Selbst verborgen in der Tiefe jedes Wesens
Das wahre Selbst: absolutes Sein, absolute Erkenntnis, absolute Glückseligkeit
Unendlich und unveränderlich
Das ist Shiva und Du bist Shiva
Meditiere über ihn im Lotus Deines Herzens."


Solange der Mensch den Zustand der Erleuchtung, das moksha, nicht erlangt hat, ist ihm das Selbst unerreichbar, denn, wie Shankara hinzufügt: "…Brahman ist das erhabene Selbst, welches durch die Sprache nicht erreicht werden kann. Doch das Auge innerer Erleuchtung kann Es erschauen. Es ist reines absolutes Bewußtsein, die ewige Wirklichkeit. Das ist Brahman, und das bist du."

Den meisten von uns ist das Selbst bzw. der
Spirit unbekannt; es erreicht nicht die Ebene unseres Bewußtseins. Im Evangelium steht: "Es ist der Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt." Damit der Spirit in unserem Bewusstsein wahrgenommen werden kann, muß man die Erfahrung machen, welche Selbstverwirklichung bezeichnet wird. Nur für diejenigen, welche diese Erfahrung gemacht haben, heißt es im Evangelium: "Ihr aber kennt ihn, weil er bei euch bleibt und in euch sein wird."

Die Sufis, die Mystiker des Islam, priesen den Allmächtigen Gott, welchen sie in sich selbst entdeckt hatten:

"Mit dem Auge des Herzens sah ich meinen Herrn,
Und fragte ihn: ‘Wer bist Du?‘ Er antwortete: ‘Du!‘"
"Du wohnst in meinem Herzen,
Und es enthält Deine innersten Geheimnisse."

„Gnothi seauton“ – „Erkenne dich Selbst“ - Diese Aufforderung stand über dem Eingang zur Vorhalle des Apollontempels in Delphi. Apoll, der Lichte und Reine, wurde als Gott der Weisheit verehrt, und jeder, der das Tor zur Weisheit öffnen wollte, war daran erinnert, diese in sich selbst zu suchen. Die Worte "Erkenne dich selbst" bedeuten also " Erkenne dein Selbst", weshalb die englische Übersetzung "Know thy Self" die tiefere Bedeutung dieses Satzes besser zum Ausdruck bringt.

In allen religiösen Traditionen ist
Geist gleichbedeutend mit Hauch oder Wind. Der englische Spirit und der französische Esprit leiten sich beide vom lateinischen spiritus ab, was soviel wie Wind bedeutet. Für die Griechen war der Geist das Pneuma, was wiederum Hauch heißt. Das hebräische Ruach ist ebenfalls ein Synonym für Wind. Letztlich stammt auch das Wort Jahwe von der Wurzel "HWY", die auch wieder Wind bedeutet.

Die gleiche Bedeutung dieser verschiedenen Begriffe ist nicht rein zufällig. Sie beruht wohl auf einer Intuition des Unbewussten, die uns enthüllen will: den Geist zu kennen, heißt auch den
"Wind Gottes" zu kennen. Vergleichen wir das mit jener Passage im Neuen Testament, welche die Ankunft des Heiligen Geistes zu Pfingsten beschreibt: "Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren."

In Indien wird dieser Wind
"Brahmachaitanya", der Atem Gottes genannt, und in der vedischen Tradition erklärt die Prashna Upanischad: "Im Herzen residiert der Atman. Dort gibt es einhundertundein subtile Kanäle... In ihnen strömt ... der Atem." Der Geist wird in Indien immer mit Prana verbunden, ein Begriff der Sanskrit Hauch bedeutet. Die Mundaka Upanischad erläutert, daß dieser Hauch seinen Ursprung im Atman hat. Auch die Kausitaki Upanischad bekräftigt mehrmals, dass das Atma (Brahma) der Hauch sei. Die Taittiriya Upanishad fügt dem hinzu, dass der, der Brahman als Atem verehrt, das ewige Leben erlangt. Und eine der ältesten sanskrit Schriften, das Atharva Veda, bestätigt: „wer auch immer vom Atem des Lebens angetrieben wird, wird wiedergeboren werden.“

Übersetzt nach Gwenael Verez, The Search for the Divine Mother, 1997