LordofDance

Shri Shiva - Der Herr des Tanzes

Will man komplexe Ideen aus einer anderen Kultur verstehen lernen, bietet sich die Kunst als exzellentes Hilfsmittel dazu an. In der Zeit der Chola Dynastie (880-1279) wurde durch einen Künstler im südlichen Indien eine Statue aus Bronze geschaffen, welche den Gott Shiva in tanzender Stellung zeigt, eines der bedeutensten Kunstwerke Asiens. In seinem Aspekt als Herr des Tanzes wird Lord Shiva als Shri Nataraja bezeichnet. Die Statue stellt eine optische Zusammenfassung von verschiedenen der wichtigsten Ideen indischer Tradition dar.

In der hinduistischen Welt wird das höchste göttliche Prinzip als Brahman bezeichnet. Brahman ist das ewige, unvergängliche Absolute. Da Brahman ein Zustand reiner Transzendenz ist, kann es vom Denken nicht erfasst werden. Alles was es im Universum gibt ist Brahman – und gleichzeitig auch alles was es nicht gibt. Es besitzt keine Charaktermerkmale und kann mit Worten nicht erklärt werden. Brahman, das Eine ohne ein Zweites, ohne Form und doch nicht formlos, ist schwierig zu verstehen. In den Upanischaden weist der Ausspruch ‚neti-neti’ darauf hin, dass alle Erscheinungen des Universums bloße Überdeckungen Brahmans sind. Damit meint man, dass allem, dem ein Name oder eine Bezeichnung gegeben werden kann, nicht Brahman sein kann. Brahman ist ‚nicht dies, nicht das’ (neti-neti). Darstellungen des Göttlichen sind wie Wegweiser. Sie weisen dem Frommen den Weg zum Mysterium des Brahman; aber sie sind nicht Brahman.

Du und ich sind genauso Teil des Brahman. In unserem täglichen Leben ist es uns normalerweise jedoch nicht bewusst, dass wir alle und darüber hinaus die gesamte Welt in der wir leben letztlich Brahman sind. Immer wieder spielen wir bestimmte Rollen, bis wir uns schließlich eines Tages danach sehnen unsere wahre Natur, das Selbst – die Einheit mit dem Brahman - zu erkennen und das, was wir fälschlich für unser Ich gehalten haben, loszulassen. Diese Erkenntnis der Einheit mit dem Brahman ist das höchste Ziel der Hindus und wird von diesen Moksha genannt. Shri Shiva in der Form als Nataraja, verkörpert dieses höchste Ziel.

Wenden wir uns nun Shri Nataraja zu und versuchen wir, verschiedene Aspekte dieser berühmten Darstellung zu verstehen.

Shri Shiva wird durch dieses Kunstwerk als König des Tanzes und Herr der Weltbühne darstellt. Der Tanz ist Symbol eines dynamischen Universums, Symbol der Bewegung. Er hat in der indischen Kultur eine wichtige Bedeutung inne und stellt als kosmischer Tanz des Lebens das Wechselspiel zwischen Entstehung, Erhaltung, Zerstörung, Verkörperung und Befreiung dar.

Shri Shiva tanzt inmitten eines Flammenkreises, durch welchen Samsara, der endlose Kreislauf von Leben, Tod und Wiedergeburt dargestellt wird. Das Leben entsteht infolge von Hitze (Leidenschaft) und endet im Feuer der Zerstörung, um immer wieder aufs Neue zu entstehen.

In einer Hand hält Shri Shiva die doppelseitige Trommel. Sie ist ein Symbol für die Schöpfung, pulsiert im Rhythmus des Universums und begleitet den Tanz Shri Shivas als Musik. Der Klang der Trommel repräsentiert darüber hinaus den Ton als erstes Element des sich entfaltenden Universums. Der Ton ist das Fahrzeug für die Sprache und Transportmittel für die Offenbarung der Wahrheit. Durch die Sanduhrform dieses Musikinstrumentes wird das weibliche und männliche Element in der Schöpfung angedeutet. Man stelle sich zwei Dreiecke vor, welche einander durchdringen, um gemeinsam ein Sechseck zu formen.

Die Geste (Mudra) der rechten unteren Hand bedeutet „Fürchte dich nicht!“ Das Mudra der linken unteren Hand bedeutet „es gibt einen Ausweg!“ und verspricht Erlösung oder Befreiung aus der Welt der Formen und Wiedergeburten.

Sieht man sich die Füße Natarajas an, stellt man fest, dass sie sich auf unterschiedlichem Niveau befinden. Der hochgehobene linke Fuß symbolisiert den überbewussten Zustand und führt den Betrachter von der Welt der Formen in die formlose Realität der spirituellen Befreiung. Er verspricht Moksha-Nirvana (Befreiung durch das Aufgehen des individuellen, vergänglichen Ich’s in Brahman). Der rechte Fuß befindet sich am Boden und zerquetscht einen Dämonen, welcher die Nicht-Erkenntnis in Beziehung auf die spirituelle Befreiung darstellt. Diese Ignoranz ist es, welche durch Shri Nataraja überwunden wird.

In der oberen linken Hand hält Shri Shiva das Element Feuer, durch welches die Zerstörung symbolisiert wird. Nur durch die Zerstörung wird der immer währende Neubeginn ermöglicht. Außerdem wird durch das Feuer alle Unreinheit der Seele beseitigt. Die Stellung der beiden oberen Arme deutet weiters auf das Gleichgewicht zwischen Schöpfung und Zerstörung hin.

Aus Shivas Haar entspringt der Fluss Ganges. Das bedeutet, dass Shri Shiva die Natur der linken Seite, den Tamo Guna kontrolliert. Die Göttin Ganga zog sich eines Tages in die Berge des Himalaya zurück. Das Wasser versiegte und die Erde in den Ebenen vertrocknete. Erst infolge hingebungsvoller Bußübungen eines Weisen, erhörte Ganga die Gebete der Menschen und kam schließlich auf die ausgetrocknete Erde zurück. Shri Shiva befürchtete aber, dass die Kraft des Stromes alles Leben in den Ebenen auslöschen werde und erlaubte dem Fluss von den Bergen des Himalayas durch sein Haar zu fließen, wodurch dieser seine Wildheit verlor und sanft durch die Ebenen des Gangestales strömte.

Das Gesicht Shivas drückt völlige Gelassenheit und Losgelöstheit von der Entfaltung seiner eigenen Energie und dem Fluss der Zeit aus und durch das verfilzte Haar wird der Betrachter daran erinnert, dass Shri Shiva ein Asket ist. Er trägt als Schmuck eine Schlange und symbolisiert damit die Kontrolle über die Kräfte der Natur. Die Schlange könnte auch als Kreislauf des Lebens und des Todes oder als Symbol für die Überwindung der eigenen egoistischen Natur als Voraussetzung für die Erlangung von Moksha gedeutet werden.

Das dritte Auge auf der Stirn Shri Shivas, deutet auf die Fähigkeit hin, alles zu sehen. Der Schädel als Krone zeigt, das Shri Shiva den Tod bezwingt und die Mondsichel in seinem verfilzten Haar steht für höchstes Bewusstsein und Erleuchtung.

Shri Shiva trägt zwei verschiedene Ohrringe, womit angedeutet wird, dass Er maskuline und feminine Aspekte der Existenz verkörpert. Ein Ohrring stellt eine Kombination zwischen Fisch und Krokodil dar und wird von Männern getragen. Der andere von Frauen getragene Ohrring ist eine einfache Spirale.

Das Bild ruht auf einem Lotos, dem indischen Symbol für die kreative Kraft des Universums.

Übersetzung und Bearbeitung: Siegfried H